Erstellung von Content für Zielgruppen mit geringerer Lesekompetenz

Lee Densmer 18. Dez. 2020
Erstellung von Content für Zielgruppen mit geringerer Lesekompetenz
Marken verwenden viel Zeit und Aufwand darauf, die globale Wahr­nehmung ihrer Marke strategisch zu planen. Auch in die Er­stellung von Support-Content für Pro­dukte fließt viel Zeit und Geld, denn Kunden sollen diese Pro­dukte optimal nutzen können. Doch wie geht man ei­gentlich vor, wenn die Ziel­gruppe gar nicht lesen kann? Woher wissen lese­unkundige Käufer, wofür die Marke steht oder welches Produkt für sie infrage kommt? Wenn Sie in einen neuen Markt ein­steigen, sollten Sie sich zuvor gründ­lich mit den demo­grafischen Daten Ihrer künftigen Ziel­gruppe ver­traut machen. Dass dazu auch die Alpha­betisierungs­rate ge­hören sollte, klingt wie eine Selbst­verständlichkeit, dennoch wird dieser Punkt oft über­sehen, da Unter­nehmen hier feste Vorannahmen haben.

Auch direkt vor der eigenen Türschwelle

Dem UNESCO-Institut für Statistik zufolge gibt es welt­weit fast 800 Millionen er­wachsene An­alphabeten. Lese- und Schreib­fähigkeit ist definiert als die „Fähigkeit, ge­druckte und ge­schriebene Materialien in unter­schiedlichen Zusammen­hängen zu er­kennen, zu ver­stehen, zu inter­pretieren, zu er­stellen und mit deren Hilfe zu kommunizieren und zu rechnen“. Aber niedrige Alphabetisierungsraten gibt es ja ohnehin nur in Entwicklungs­ländern wie Niger, wo lediglich 19 % der er­wachsenen Be­völkerung lesen und schreiben können, oder? In Dritte-Welt-Ländern mit schwachem Bildungs- und Gesundheits­wesen, knappen Beschäftigungs­möglichkeiten, wenig ent­wickelter Wohn­infrastruktur und in jedem Falle ohne WLAN, oder? Keineswegs. In den USA sind laut Zahlen des National Center for Educational Statistics (NCES) 43 Millionen Menschen – 21 % aller Erwachsenen – funktionale Analphabeten. Die World Literacy Foundation fand heraus, dass in Großbritannien jeder fünfte Er­wachsene Schwierig­keiten hat, die Auf­schrift einer Arznei­mittel­verpackung zu lesen.

Bilder sagen mehr als Worte

Wer jemandem ver­ständlich machen möchte, wie man einen Schlips bindet, kann dies entweder wortreich erklären oder einfach zu dieser Abbildung greifen: ties Auch wenn es hier nur um einen Krawatten­knoten geht, gilt dasselbe im Grunde für jede Art der Kommunikation – insbesondere dann, wenn die Ziel­gruppe nicht (gut) lesen kann. Wenn Sie also eine Zielgruppe mit geringen Lese­kenntnissen an­sprechen möchten, sollten Sie sich in An­leitungen, Inter­aktionen oder Marketing-Materialien möglichst kurz fassen. Visuelle Elemente sind aller­dings nicht nur für funktionale An­alphabeten leichter ver­ständlich: Jeder Mensch kann bildliche Informationen schneller auf­nehmen und länger im Ge­dächtnis speichern. Hinzu kommt, dass eine bild­liche Dar­stellung die Ziel­gruppe viel mehr an­spricht, da sie den Sach­verhalt dann durch die Augen der handelnden Akteure sehen und – das wichtigste Argument über­haupt – sich in deren Lage ver­setzen und selbst ent­scheiden kann. Der Ziel­gruppe wird keine gedankliche Struktur auf­gezwungen, vielmehr entfaltet sich die Story im wört­lichen Sinne vor ihren Augen, sodass sie eine eigene Perspektive ent­wickeln kann. Das Resultat ist eine emotionale Ansprache. Ein weiterer Vorteil von visuellem Content ist, dass er den Teil des Gehirns an­spricht, der für Emotionen zuständig ist. „Das emotionale Gehirn ver­arbeitet Sinnes­reize in einem Fünftel der Zeit, die der kognitive Teil unseres Gehirns braucht, um dieselbe Menge an In­formationen auf­zunehmen“, erklären die Marken­experten von Branding Strategy Insider. An­gesichts dessen, dass Kunden – unabhängig von ihrer Lese­kompetenz – tendenziell immer weniger Zeit für Ihren Marketing-Content auf­bringen, macht es einen Unter­schied ums Ganze, ob Sie Ihre Bot­schaft in zehn oder zwei Sekunden ver­mitteln können. Sehen wir also der Wahrheit ins Auge: Unser Gehirn will Bilder. 90 % der Informationen, die das mensch­liche Gehirn auf­nimmt, sind visueller Natur und Bilder werden 60.000-mal so schnell ver­arbeitet wie Text. Folglich können wir visuelle Dar­stellungen, ungeachtet unserer Lese­kenntnisse, schlicht schneller auf­nehmen und leichter im Ge­dächtnis behalten – und die Lo­kalisierungs­kosten sind obendrein auch günstiger.

Bilder sparen bares Geld

Visuelle Darstellungen haben überdies den Vorteil, das sie nicht so oft über­arbeitet werden müssen wie Text, sodass Kosten für den Über­prüfungs- und Neu­formattierungs­aufwand ent­fallen. Außerdem können Bilder beim Ein­stieg in einen neuen Markt in der Regel so über­nommen werden wie sie sind, wobei es sich dennoch em­pfiehlt, sie auf möglicher­weise kulturell anstößige Inhalte zu überprüfen. Als Beispiel wollen wir uns ein Unter­nehmen an­sehen, dass diesen Ansatz regel­recht zur Kunstform erhoben hat. Wer bei IKEA ein Möbelstück kauft – ganz gleich, ob es sich dabei um ein einfaches, sechs­teiliges Regal oder einen komplizierten Eck­schreibt­isch mit mehreren Ebenen und 600 Einzel­komponenten handelt –, bekommt dazu eine Montage­anleitung, die keinerlei Text enthält. Nicht ein einziges Wort! Zweifels­ohne dürfte diese Einfach­heit ein Grund dafür sein, warum das schwedische Unter­nehmen in 52 Ländern mit Filialen vertreten und zum welt­größten Möbel­händler geworden ist. Produkt­handbücher und An­leitungen, die ohne Text aus­kommen, funktionieren gut, weil die meisten Produkte rund um den Erd­ball auf die­selbe Art und Weise ver­wendet werden. Beispielsweise ist die Vor­gehens­weise zum Montieren von Selbst­baumöbeln überall gleich, folglich können auch die Ab­bildungen überall gleich sein, selbst wenn Text für einzelne Märkte und Rechts­räume aktualisiert oder über­setzt werden muss. Ein ganz anderes Thema sind aller­dings Ver­packungen, marken­spezifischer Content und Werbe­inhalte, denn bei Texten dieser Art geht es darum, Emotionen hervor­rufen und die Ziel­gruppe zu einer be­stimmten Handlung zu be­wegen. Hier kann es durchaus öfter vor­kommen, dass auch nonverbale Elemente an­gepasst werden müssen, damit sie in der Ziel­kultur besser ankommen. So gab es den Fall eines Herstellers von Babynahrung, der auf seine Produktverpackungen ein niedliches, gesundes Kleinkind druckte. Als Symbolbild war diese Ab­bildung in den meisten Kulturen bestens ge­eignet, um für das Produkt zu werben. Doch dann ex­pandierte das Unter­nehmen in ein Entwicklungs­land mit niedriger Alphabetisierungs­rate, in dem Marken in der Regel das Produkt selbst auf der Ver­packung abbilden, also Bohnen auf einer Gemüse­konserve, einen Fisch auf einer Thunfisch­dose, ein Schwein auf einer Packung Speck oder Schinken, ein Baby auf … Und da war der Imageschaden.

Lokal agieren, aber global denken

Worauf wollen wir also hinaus? Eigentlich sollte die Bot­schaft selbst­verständlich sein: Recherche ist stets un­erlässlich, aber wenn selbst große, globale Marken derart daneben­liegen können, kann dies anderen auch passieren. Microsoft startete in Polen eine Werbe­kampagne mit einer Ab­bildung, die Menschen unter­schiedlicher Haut­farbe bei einem Meeting zeigte. Da es in Polen aber nur sehr wenige Schwarze gibt, ent­schied Microsoft, dass diese Personen­gruppe vor Ort nicht re­präsentiert sein müsse. Das Unternehmen ersetzte daher den einzigen Schwarzen im Bild durch einen Weißen. Als sich diese Ent­scheidung herum­sprach, zog dies Reaktionen nach sich, die dem welt­weiten An­sehen der Marke einigen Schaden zufügte.

Ganz ohne Text geht es nicht, oder?

Mitunter braucht man keinen Text, um eine Bot­schaft zu ver­mitteln. Sollte aber zur Klar­stellung doch Text er­forderlich sein, empfiehlt es sich, diesen einfach zu halten. So einfach wie möglich. Weniger ist mehr. Diesen Rat würden Marken-, Marketing- oder Kommunikations­berater wahr­scheinlich jedem geben – dem neuen Praktikanten ebenso wie einer CEO mit vierzig Jahren Berufs­erfahrung. In Märkten mit niedriger Alphabetisierungs­rate sind Ab­bildungen nicht bloß relevanter als Texte – wie wir oben gesehen haben, sind sie immer relevant –, sie sollten die wichtigste Über­legung überhaupt sein. Für eine Ziel­gruppe mit einem hohen Anteil Lese­unkundiger Texte zu ver­fassen, ist schlicht ver­gebliche Liebes­müh. Davon ab­gesehen sind Kunden in Ländern mit hoher Analphabeten­quote nonverbale Kommunikation ge­wohnt. Es ist also keine­swegs so, dass sie sich auf etwas Neues ein­stellen müssten – im Gegenteil, Ihr Unter­nehmen greift damit lokale Kon­ventionen auf, was die Chance er­höht, dass Ihre Bot­schaft ankommt. Ganz un­abhängig von der eigenen Lese­fähigkeit werden sich Kunden eher für eine Marke be­geistern können, die so mit ihnen kommuniziert, wie sie es gewohnt sind. Eine häufige Ausnahme von dieser Regel be­trifft Pharmazie- oder Medizin­unternehmen, die sich mit Text­botschaften recht­lich ab­sichern müssen. In solchen Fällen sollten – im Rahmen des Möglichen – möglichst einfache For­mulierungen gewählt werden, denn letztl­ich kommt es bei Ihrem Angebot vor allem auf Verständlichkeit an.

So kommt Ihre Botschaft an

  • Mutmaßen Sie nicht. Betreiben Sie Recherche. Informieren Sie sich über den Alphabetisierungs­grad im Zielmarkt.
  • Fassen Sie sich kurz. Weniger ist mehr.
  • Schreiben Sie leicht verständlich. Also Texte mit klarer Struktur, kurzen Sätzen und einfachen Worten.
  • Bilder sagen mehr als Worte. Mit Ab­bildungen wird Ihre Botschaft deutlicher.
  • Verwenden Sie wenig Text und große Ab­bildungen.
  • Bilder sagen mehr als Worte. Dies kann man nicht oft genug sagen.
Die gute Nachricht lautet übrigens, dass die Alphabetisierung in den meisten Ländern große Fort­schritte macht. Wer lesen kann, kann sich besser in­formieren und folglich auch bessere Ent­scheidungen zum eigenen Vorteil treffen. Betrachtet man alle 7,8 Milliarden Menschen auf der Welt als Ziel­gruppe – gewagt, aber globaler geht es nicht –, lässt sich zusammen­fassen: Wir wollen weniger Text lesen und dafür mehr grafische Elemente sehen, denn so passt sich unser Gehirn dem Schritt­tempo der modernen Welt an. Und es soll ja schließlich schneller gehen – oder was denken Sie, warum Instagram und Tik Tok in kurzer Zeit so be­liebt wurden? Vor diesem Hinter­grund sollte jeder, der sich mit Marketing oder Content-Erstellung befasst, die obigen Hinweise beherzigen.
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Lee Densmer

Lee Densmer ist seit 2001 in der Lokalisierungsbranche tätig. Sie begann als Projektmanagerin und wechselte dann zu Lösungsarchitektur und Marketing-Management. Wie viele Lokalisierungsexperten kam auch sie durch ihr Sprachinteresse und ihre linguistische Ausbildung zu diesem Bereich. Sie hat einen Master-Abschluss in Linguistik von der University of Colorado. Lee Densmer lebt in Idaho und unternimmt gern Auslandsreisen und Ausflüge in die umliegenden Berge.
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