Können Pidgin-Sprachen für Marketing und Werbung verwendet werden?

Lee Densmer 17. Juni 2020
Können Pidgin-Sprachen für Marketing und Werbung verwendet werden?
Pidgin-Sprachen – am einfachsten definiert als Verschmelzung zweier Sprachen – gibt es auf der ganzen Welt. Die offizielle Zahl von Pidgin-Sprachen variiert, aber die Website Ethnologue listet insgesamt 16 Pidgin-Sprachen auf, die weltweit verbreitet sind. Nigerianisches Pidgin-Englisch ist mit 75 Millionen Sprechern in Nigeria weit verbreitet, haitianisches Kreolisch sprechen immerhin 12 Millionen Menschen und jamaikanisches Kreolisch 3,2 Millionen. Warum also sind Pidgin-Sprachen in Marketing- und Werbe-Content meist nicht vertreten? Mit dieser Frage beschäftigen wir uns im folgenden Blogbeitrag, doch schauen wir uns zunächst einmal an, was genau Pidgin-Sprachen sind und wo sie gesprochen werden.

Pidgin verstehen

Was ist Pidgin?

Das Oxford English Dictionary definiert Pidgin als:
„Eine Sprache mit lexikalischen und anderen Elementen von zwei oder mehr Sprachen, typischerweise mit vereinfachter Grammatik und einem kleineren Vokabular als die Sprachen, aus denen sie hervorgegangen ist. Sie dient zur Verständigung zwischen Menschen, die nicht dieselbe Sprache sprechen; eine Lingua Franca (Verkehrssprache).“
Pidgin-Sprachen sind Mischsprachen, die aus der Not heraus geboren werden. In ihnen sind zwei Sprachen kombiniert, um eine Verständigung zu ermöglichen, die sonst nicht möglich wäre. Im Laufe der Zeit kann sich aus einer Pidgin-Sprache eine Kreol-Sprache entwickeln.

Was ist eine Kreol-Sprache?

Im Grunde ist es eine Pidgin-Sprache, die sich zur Mutter­sprache entwickelt. Oxford Learner’s Dictionaries definiert Kreol als:
„Eine Mischsprache, die entsteht, wenn eine europäische Sprache und eine lokale Sprache (insbesondere afrikanische Sprachen, die von den Sklaven auf den Westindischen Inseln gesprochen wurden) als Muttersprache gesprochen wird.“
In der Praxis werden diese beiden Begriffe häufig synonym verwendet. Westafrikanisches Pidgin-Englisch beispielsweise ist auch bekannt als „Guinea Coast Creole English“, das Kreol-Englisch der Küstenregion zwischen Senegal und Kamerun. Entstanden ist es in der Zeit des Sklaven­handels entlang der Atlantikküste im 17. und 18. Jahrhundert und wird heute in großen Teilen Westafrikas gesprochen. Damit handelt es sich im Grunde um eine Kreol-Sprache. Dennoch wird es noch immer häufig als Pidgin-Englisch bezeichnet.

Wo werden Pidgin-Sprachen gesprochen?

Pidgin-Sprachen werden weltweit gesprochen: in Afrika, der Karibik, dem nördlichen Teil Südamerikas, Indonesien, den Philippinen, Malaysia und Papua-Neuguinea. Vielleicht haben Sie auch schon vom Kreolisch im US-Bundesstaat Louisiana gehört. In Europa hingegen sind keine Pidgin-Sprachen dokumentiert (siehe diese interessante Karte).

Was ist die Grundlage vieler Pidgin-Sprachen?

Oft ist es Englisch, sodass Übersetzungen von Pidgin oder Kreolisch ins Englische von professionellen Übersetzungsdienstleistern weltweit angeboten werden. Manche Pidgin-Sprachen basieren auf Portugiesisch, Französisch oder Spanisch.

Schlummert hier eine Geschäftschance?

Viele Pidgin-Sprachen sind aus kulturellen, ge­sellschaft­lichen und geschäftlichen Begegnungen hervorgegangen, doch moderne Unternehmen meiden sie weitestgehend. In Westafrika beispielsweise ist ein Pidgin entstanden, um Handel zu ermöglichen – in erster Linie den Handel mit Menschen, die als Sklaven in die Neue Welt verkauft wurden. Angesichts der zahlreichen Pidgin-Sprecher weltweit (zwischen Hundert­tausenden und Hunderten Millionen) stellt die potenzielle Verwendung von Pidgin-Sprachen in der Geschäftswelt eine Chance dar, die nicht ungenutzt bleiben sollte.

Marketing-Kampagnen in Pidgin-Sprachen entwerfen

Nehmen wir einmal das Pidgin-Englisch Nigerias als Beispiel. Zwischen drei und fünf Millionen Nigerianer sprechen es als Muttersprache und ganze 75 Millionen Nigerianer verwenden es als Zweitsprache (bei einer Gesamtbevölkerung von rund 190 Millionen). Varianten dieser Sprache sind in ganz Westafrika und Zentralafrika verbreitet. Da liegt es auf der Hand, dass die Verwendung von nigerianischem Pidgin in Marketing-Kampagnen sehr wirkungsvoll sein könnte. Es würde sich nicht nur für Marketing­strategien in Verbindung mit aktuellen Ereignissen eignen, sondern auch eine engere Bindung zum Kunden schaffen. Angesichts der zahlreichen Sprecher hat sich das Pidgin Nigerias zu einem eigen­ständigen Bestandteil der nigerianischen Kultur entwickelt. Von Afrobeat-Musik bis hin zu Filmen aus Nollywood, der nigerianischen Traumfabrik, beschreitet die Sprache neue Pfade. Warum also sollte sie nicht auch beispielsweise von der Lebensmittel- und Getränke­industrie genutzt werden? Essen ist ein zentraler Be­standteil jeder Kultur und eng mit Sprache verwoben – so auch beim nigerianischen Pidgin. Alternativ könnte das Pidgin-Englisch Nigerias einem weitaus praktischeren Zweck dienen. Stellen Sie sich einmal vor, es würde in einer Aufklärungs­kampagne zu sexuell übertragbaren Krankheiten verwendet werden. Von einer solchen Kampagne würde die Bevölkerung enorm profitieren und mit nigerianischem Pidgin-Englisch als Verkehrs­sprache könnte sie ein großes und vielfältiges Publikum erreichen.

Was verrät unsere Einstellung zu Pidgin-Sprachen über uns selbst?

Die Einstellungen zu nigerianischem Pidgin sind äußerst aufschlussreich. Trotz der vielen Millionen Sprecher ist es nirgends in Westafrika als offizielle Landes­sprache anerkannt. Und nicht nur das, bei formellen An­gelegenheiten ist die Verwendung der Sprache sogar oft unerwünscht. In vielen Schulen beispielsweise werden Kinder bestraft, die Pidgin anstelle von Englisch sprechen. Der BBC World Service – die Bastion zur Bewahrung der englischen Hochsprache – schwamm gegen den Strom, als beim Sender 2017 „BBC News Pidgin“ zum ersten Mal auf Sendung ging. Die Nachfrage nach einem solchen Service war eindeutig vorhanden: Ein Jahr später hatte die Sendung bereits 7,5 Millionen Zuhörer pro Woche. Die Tatsache, dass nigerianisches Pidgin häufig als „gebrochenes Englisch“ bezeichnet wird, zeigt die gesellschaftliche Haltung sowohl gegenüber der Sprache als auch ihren Sprechern. Fela Kuti sprach vielen aus dem Herzen, als er auf Pidgin sang „I no be gentleman at all o“ und damit seinen Widerwillen ausdrückte, „zivilisiert“ sein zu müssen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass all jene, die die Verwendung von Pidgin aktiv zu unterdrücken versuchen, ihre eigene Einstellung ändern. Anstatt eine Website von Englisch nach Igbo oder Hausa zu übersetzen, sollten Unternehmen sich eher darauf konzentrieren, die Sprache zu verwenden, mit der sie mehr Sprecher erreichen als mit beiden Sprachen zusammen: nigerianisches Pidgin. Natürlich argumentieren manche nun, dass etwa 79 Millionen Nigerianer auch des Englischen mächtig sind und es deshalb ebenso nützlich wäre, eine Website in Igbo oder Hausa ins Englische zu übersetzen. Darum geht es aber nicht. Nigerianern stehen bereits Unmengen an englischem Content zur Verfügung. Übersetzungen ins Englische würden also nichts beisteuern, was sich von der breiten Masse abhebt. Stattdessen wäre es mutiger, in die Pidgin-Sprache zu übersetzen, die Ihre Zielgruppe zu Hause und im Freundeskreis spricht. Das könnte auch die Beliebtheit Ihrer Marke bei Kunden steigern und besonders viel Vertrauen schaffen.

Über die Verfasserin

Louise Taylor schreibt seit fast zehn Jahren für Tomedes, einer Übersetzungs- und Lokalisierungsagentur mit Kunden auf der ganzen Welt, über Sprachen. Sie hat eine Passion für Sprachen und besitzt Abschlüsse in Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch sowie Latein. Außerdem spricht sie passables Portugiesisch.
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Lee Densmer

Lee Densmer ist seit 2001 in der Lokalisierungsbranche tätig. Sie begann als Projektmanagerin und wechselte dann zu Lösungsarchitektur und Marketing-Management. Wie viele Lokalisierungsexperten kam auch sie durch ihr Sprachinteresse und ihre linguistische Ausbildung zu diesem Bereich. Sie hat einen Master-Abschluss in Linguistik von der University of Colorado. Lee Densmer lebt in Idaho und unternimmt gern Auslandsreisen und Ausflüge in die umliegenden Berge.
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