Neue Ansätze zur Lokalisierung von Video-Content

Lee Densmer 18. Jan. 2021
Neue Ansätze zur Lokalisierung von Video-Content
Schätzungen zufolge werden Videos im Jahr 2022 etwa 82 % des gesamten Web­daten­verkehrs bei End­kunden aus­machen. Das zeigt deutlich: Unter­nehmen, die keine Videos für Ihr Ziel­publikum er­stellen, werden schnell auf der Strecke bleiben. Doch nur etwa 20 % der Welt­bevölkerung spricht Englisch. Deshalb müssen alle Marken, die ihren Ein­fluss global aus­bauen möchten, Videos lo­kalisieren, das heißt, den Video-Content speziell auf den je­weiligen Ziel­markt zuschneiden. Nur wenige kennen sich mit dem Thema Video­lokalisierung so gut aus wie Andre Hemker, der neue CEO von Wordbee. Deshalb haben wir ihn in unser Globally Speaking Radio ein­geladen, seine Sicht­weise zum Thema zu erläutern.

Tiefergehende Lokalisierung

Die meisten von uns kennen her­kömmliche Video­lokalisierungs­methoden wie Unter­titelung, Synchronisation und Voiceover. Doch neue Techniken für visuellen Content – wie jene von Hemker und seinem Team – er­lauben die Pro­duktion immersiver Videos, mit denen Mar­ken mehr Kunden für weniger Geld erreichen. Anhand eines Bei­spiels aus seiner eigenen Er­fahrung ver­deutlicht Hemker die po­tenziellen Ein­satz­möglich­keiten moderner Video­lokalisierungs- und Pro­duktions­technologie. Hemker und sein Team wur­den ge­beten, einen Werbe­film für ein Unter­nehmen zu drehen, das Navigations­software für Fahr­zeuge pro­duziert. Als Kulisse für den Film sollte ein amerikanischer Highway dienen. Doch die Voll­sperrung einer Haupt­verkehrsader in den USA war weder wirt­schaftlich noch prak­tisch umsetzbar. Glücklicher­weise waren die Be­hörden in Polen bereit, die Pro­duktion zu unter­stützen. Das Team nutzte ein wildes Sammel­surium klassischer Medien­produktions- und Lo­kalisierungs­technik, um dem Zu­schauer zu suggerieren, dass der Werbe­spot in den USA ge­dreht worden war. „Wir haben die gesamte Szene auf einer Schnell­straße in Polen gedreht. Dazu haben wir die Be­schilderung und die Fahr­bahn­markierungen ver­ändert. Natürlich hatten wir auch Text, den wir mittels After Effects als Overlay inte­grierten. Und schließlich ver­wendeten wir auch ein Translation-Management-System.“ Ein weiteres von Hemker an­geführtes Beispiel ist ein russischer Film, den er kürz­lich ge­sehen hatte, in dem ein Schrift­zug auf einem Arm­band ge­zeigt wurde. An­statt den Text zu lo­kalisieren, was Hemker zu­folge recht ein­fach ge­wesen wäre, war der Text auf Russisch be­lassen worden. Winzige Details wie diese können in der Summe darüber ent­scheiden, ob ein Film gut oder schlecht ankommt. Eine über den reinen Text und Bilder hinaus­gehende Lo­kalisierung er­fordert jedoch einen tief­greifenderen An­satz. „Globally Speaking“-Moderator Jim Compton be­zeichnet dies als „deep localization“, also tiefer­gehende Lokalisierung: „... die Lokalisierung geht sehr in die Tiefe, stimmt‘s? Es wird nicht nur ober­flächlich lo­kalisiert, sondern gründ­lich bis in den Kern.“ Und genau das wurde im in Polen ge­drehten Werbe­spot des Navigations­herstellers getan.

Tiefergehende Integration von Lokalisierung und Technologie

Hemker erläutert außer­dem „Hürden im Technologie­umfeld“ in der Lokalisierungs­branche, die die Skalier­barkeit und das Wachstum von Video­lokalisierung aus­bremsen. Im Interview merkt Jim Compton an: „Sowohl die Lokalisierung als auch die Audio- und Video­produktion haben eine eigene Technologie­landschaft. Sie sind von­einander ge­trennt.“ Hemker ent­gegnet: „Es gibt nicht viele, die sich in beiden Welten gut aus­kennen, und das auch noch gut genug, um beide zu kom­binieren.“ Es ist höchste Zeit, dass beide Tool­sets mit­einander integriert werden, um öfter tiefer­gehend lokalisieren zu können. Sowohl Compton als auch Hemker können die Zu­kunft der Lokalisierungs­technologien kaum erwarten. Sie gehen davon aus, dass sie besser mit Video­produktions­software wie After Effects und Unter­titelungs­plattformen integriert sein werden, um die momentanen Hürden zu be­seitigen und Lo­kalisierungs­prozesse zu be­schleunigen, stärker zu auto­matisieren und ins­gesamt effizienter zu ge­stalten. Die Ver­knüpfung von separaten Lo­kalisierungs- und A/V-Teams würde auch dazu bei­tragen, dass beide Sei­ten die Arbeits­weise der anderen besser ver­stehen und so noch mehr innovative Ideen hervor­bringen – für eine bessere und schnellere Video­lokalisierung.

Arbeiten im Rahmen der Möglichkeiten

Besonders große Technologie-Unternehmen sind oft schnell dabei, die neuesten Tools und innovative Technologien zu über­nehmen, um der Konkurrenz einen Schritt voraus zu sein, die Gewinn­spanne zu erhöhen und mehr Umsatz zu generieren. Doch wie sollen sie neue Technologien übernehmen, wenn sie nicht wissen, dass es sie gibt? Als Beispiel für die Un­zulänglich­keiten der meisten Video­lokalisierungs-Workflows führt Hemker einen führenden Online-Streaming-Anbieter für Film und Fern­sehen an, der in 190 Ländern aktiv ist. Dennoch „findet man nur drei, vier oder fünf Synchron­versionen. Der Prozess ist so spe­zialisiert, dass man speziell aus­gebildete Leute dafür braucht, um gute Arbeit zu leisten … Man muss einen Workflow für ein ge­meinsames Experten­team er­stellen, um wirk­lich gute Synchronisationen zu er­zielen.“ Derzeit läuft der Lo­kalisierungs­prozess noch so ab: Der ge­sprochene Text eines Videos – die Audiospur – wird ex­trahiert und dann trans­kribiert. Diese Trans­kription muss dann in die vom Kun­den ge­wünschten Sprachen über­setzt werden. Im nächsten Schritt kommen die passenden Sprecher ins Studio, um die über­setzten Ver­sionen auf­zunehmen. Und zu guter Letzt müssen Audio­techniker den Pro­zess umkehren, um den neuen lo­kalisierten Text in die Videos zu in­tegrieren. Ganz zu schweigen von der Unter­titelung und der Lo­kalisierung der Elemente im Video selbst. Doch mit der fortschreitenden Ent­wicklung der Technologie werden Unter­nehmen effektivere Work­flows zur Ver­fügung stehen, die eine Skalierung ihrer Video­lokalisierungs­vorhaben er­möglichen, die Qualität steigern sowie die Kosten senken. Das be­deutet mehr lo­kalisierte Videos, mehr End­kunden, die sie sich an­schauen können, und im Ideal­fall mehr Um­satz welt­weit. Ein zu­sätzliches Plus: Auch das Be­nutzungs­erlebnis wird auf­gewertet, wenn Kunden ihre Lieblings-TV-Sendungen oder -Filme mit ver­schiedensten Synchro­nisationen und Unter­titeln schauen können. Doch dazu müssen die Tools auf neue Weise mit­einander ver­eint werden. Es geht darum, wie Jim Compton es aus­drückt, „die Lo­kalisierungs­tools in das eigent­liche System zu integrieren, in dem der Content erstellt wird.“

Die Zukunft der Videolokalisierung

Technologie wird bei der Hin­wendung zu Video-Content und allem darum herum eine ent­scheidende Rolle spielen. Für Hemker stehen dabei zwei Trends an vor­derster Stelle: maschinelle Über­setzung und Inter­operabilität. Zur maschinellen Über­setzung merkt er an: „Ich glaube, sobald ge­wisse Unter­nehmen er­kennen, wie dem Prozess mehr Zeit gegeben und wie er kosten­günstiger ge­staltet und op­timiert werden kann, dann wird sich einiges in diesem Be­reich tun.“ Hinter dem Be­griff Inter­operabilität steht das Konzept, dass Tools mit­einander in­tegriert werden und reibungs­los zusammen­arbeiten können. Hemker meint dazu: „Ich finde es be­stürzend, dass unsere Branche noch immer so viele ver­schiedene Technologien nutzt, die nicht mit­einander kompatibel sind.“ Video-Content wird für Unter­nehmen und deren Marken ein immer wichtigeres In­strument werden, um Kunden an­zusprechen und mit ihnen zu inter­agieren. Um die An­forderungen eines globalen Marktes an den be­vorzugten Typ digitalen Contents zu er­füllen, sind immer mehr Lokalisierungen not­wendig. Doch die zu­gehörigen Pro­zesse müssen noch weiter­entwickelt werden, damit Unter­nehmen diesen Content in größerem Umfang, schneller und zu ge­ringeren Kosten pro­duzieren können. Das ge­samte Inter­view mit Andre Hemker hören Sie in der 106. Folge von Globally Speaking. Wenn Sie über künftige Fol­gen auf dem Laufenden blei­ben möchten, können Sie den Podcast auch abonnieren.
Lee Densmer
AUTOR

Lee Densmer

Lee Densmer ist seit 2001 in der Lokalisierungsbranche tätig. Sie begann als Projektmanagerin und wechselte dann zu Lösungsarchitektur und Marketing-Management. Wie viele Lokalisierungsexperten kam auch sie durch ihr Sprachinteresse und ihre linguistische Ausbildung zu diesem Bereich. Sie hat einen Master-Abschluss in Linguistik von der University of Colorado. Lee Densmer lebt in Idaho und unternimmt gern Auslandsreisen und Ausflüge in die umliegenden Berge.
Alle von Lee Densmer