Unsere sechs Schritte zur Bereitstellung einer maschinellen Übersetzung

Lee Densmer 02. Sept. 2020
Unsere sechs Schritte zur Bereitstellung einer maschinellen Übersetzung

Wer die aktuelle Entwicklung der Lokalisierungstechnologien verfolgt, hat sicher schon einmal von der „Revolution“ im Bereich der maschinellen Übersetzung (MT) gehört. Einige Branchenexperten behaupten, dass sich mit MT alles übersetzen ließe – schnell und für kleines Geld. Andere behaupten, dass Arbeitsplätze in Gefahr seien, da die MT inzwischen mit menschlichen Übersetzern mithalten könne.

Unser Rat: Lassen Sie sich von diesem Hype nicht in die Irre führen. In diesem Beitrag wollen wir uns ansehen, wie die Dinge wirklich liegen.

Tatsache ist, dass MT-Systeme in den letzten Jahren immer besser und dank frei zugänglichen Plattformen wie Google Übersetzer von sehr vielen Menschen eingesetzt werden können. Zugleich sind sie jedoch weit davon entfernt, perfekte Ergebnisse zu liefern. MT-Systeme sind lediglich ein Steinchen im Mosaik des Übersetzungsprozesses und ihr Einsatz ganz ohne manuelle Eingriffe birgt durchaus erhebliche Risiken.

Eine Maschine mag zwar kostengünstiger erscheinen als ein menschlicher Übersetzer, kann aber als Einzellösung keinesfalls Ihren gesamten Übersetzungsbedarf decken. Beispielsweise können immer noch Kosten für die Nachbearbeitung und die Qualitätssicherung anfallen. Das wohl größte Missverständnis dürfte aber die Annahme sein, dass MT für jede Art von Übersetzungsprojekt geeignet sei – ob nun für Bedienungsanleitungen oder Marketingmaterial.

Deshalb haben wir einen Prozess entwickelt, der Ihnen in sechs Schritten hilft, festzustellen, ob MT für Ihre Lokalisierungszwecke überhaupt geeignet ist. Gehen Sie diese Schritte einzeln durch, bevor sie übereilt auf den MT-Zug aufspringen.

Schritt 1: Content analysieren

Zuallererst sollten Sie analysieren, welchen grundlegenden Zweck Ihr Content hat. Je nach seinem „emotionalen Gehalt“ lässt sich jeder Content oder Text grob einer der vier folgenden Kategorien zuordnen:

  1. Informieren:Inhalte dieser Art haben keinerlei emotionalen Gehalt. Sie dienen vielmehr dazu, Leser schnell mit Informationen zu versorgen, und werden mitunter von Benutzern selbst erstellt. Beispiele: FAQ-Sammlungen oder Produktbewertungen.
  2. Instruieren: Der Content soll Sachverhalte erläutern oder Handlungsanweisungen vermitteln und bedient sich dazu einer nüchternen, sachlichen Sprache. Beispiele: Produktbeschreibungen oder FAQs.
  3. Interagieren: Der Content umfasst Benutzeroberflächenelemente, die Benutzern ein bestimmtes Erlebnis vermitteln oder durch einen Prozess führen sollen, etwa beim Hinzufügen eines Produkts zum Einkaufswagen. Beispiele: Apps oder Onlineshops.
  4. Inspirieren/motivieren: Zu dieser Kategorie gehört hochemotionaler Marketing- und Vertriebs-Content. Beispiele: Webseiten und Werbung.

Der Zweck eines Contents spiegelt sich oft in der verwendeten Sprache wider: Sind die Formulierungen eher klar und nüchtern oder kreativ und stark markenbezogen? Als Faustregel gilt: Je kreativer ein Text, desto riskanter ist der MT-Einsatz.

Content, der nur der Information oder Instruktion dient, kann sich dagegen sehr gut für eine maschinelle Übersetzung eignen, da dem Leser lediglich eine Grundaussage vermittelt werden soll. Je nachdem, welche Übersetzungsqualität Sie erwarten, kann es jedoch auch hier ratsam sein, die Übersetzung von einem Menschen nachbearbeiten zu lassen. Bei interaktivem Content führt um die manuelle Validierung kein Weg herum – schließlich muss sichergestellt werden, dass die Benutzeroberfläche ein ansprechendes Erlebnis bietet.

Geht es um eine emotionale Ansprache oder darum, die Zielgruppe zu einer Impulshandlung zu motivieren, dann sollten Sie eine Transkreation Ihres Contents oder sogar eine Neufassung direkt in der Zielsprache in Erwägung ziehen. Für sensiblen markenspezifischen Content raten wir daher von MT ab – es sei denn, Schnelligkeit hat für Sie Vorrang vor Qualität. (Eine Möglichkeit, die Qualität zu verbessern, wäre eine Kombination aus MT, manuelle Validierung und Tests der Benutzerakzeptanz. Bedenken Sie jedoch, dass jeder dieser Schritte Kosten verursacht, und vergleichen Sie diese Kosten mit denen einer manuellen Übersetzung: Wären Sie hier mit MT wirklich besser bedient?)

Schritt 2: Geschäftsziele festlegen

Nachdem Sie den Content ausgewählt haben, der sich tatsächlich für eine maschinelle Übersetzung eignet, müssen Sie entscheiden, wo und wie Sie die MT einsetzen möchten. In der Regel reicht es nicht, einfach eine MT-Engine für sämtlichen Content der beiden zuerst genannten Kategorien (Informieren und Instruieren) einzurichten. Stattdessen wird Ihr Sprachdienstleister (LSP) Sie bitten, die geschäftlichen Ziele zu umreißen, die Sie mit maschineller Übersetzung erreichen möchten.

Ein mögliches Szenario wäre, dass lediglich große Content-Mengen (wie Bewertungen oder Produktbeschreibungen) oder „seltene“ Sprachkombinationen, für die nur wenige Übersetzer bereitstehen, per MT bearbeitet werden sollen. Vielleicht benötigen Sie die Übersetzungen auch nur für Märkte mit untergeordneter Bedeutung (oder für Geschäftsbereiche mit Personalmangel, etwa im Kundensupport), weshalb es nicht auf perfekte Qualität ankommt. Sollte Ihr Hauptziel aber darin bestehen, Ihr Callcenter zu entlasten, spielt die Qualität sehr wohl eine größere Rolle – schließlich sollen die Übersetzungen fehlerfrei und leicht verständlich sein.

Aus den genannten Gründen ist es wichtig, für jeden Content-Typ konkrete geschäftliche Ziele festzulegen. Anschließend kann eine passende MT-Engine ausgewählt werden, die für eine bestimmte Anwendung und Sprachenkombination trainiert wurde. So weit, so gut – doch um festzustellen, ob die MT tatsächlich brauchbare Ergebnisse liefert, ist ein Pilotprojekt erforderlich.

Schritt 3: Pilotprojekt durchführen

Mithilfe eines MT-Piloten wird getestet, wie gut die Übersetzungsergebnisse einer bestimmten MT-Engine für bestimmte Sprachen sind. Dies erfordert jedoch eine Messlatte, weshalb Sie zuvor Ihre Anforderungen und Erwartungen definieren müssen. Welche Übersetzungsqualität versprechen Sie sich von einem erfolgreichen Projekt? Oder geht es Ihnen eher um Schnelligkeit? Ein LSP kann Ihnen dabei helfen, diese und weitere Kriterien festzulegen.

Danach geht es an die praktische Umsetzung des Pilotprojekts. Ihr LSP wählt die zu testenden Engines aus, wendet diese auf einen Versuchskorpus (eine Probe Ihres Contents) an und gleicht die Ergebnisse mit Ihren Anforderungen an eine gute Human-Übersetzung ab.

Angenommen, Sie möchten den Versuch mit einer Reihe englischsprachiger FAQ-Artikel durchführen, für die bereits Human-Übersetzungen ins Deutsche vorliegen und die Ihrem Qualitätsanspruch genügen. Ihr LSP evaluiert dann die Ausgabe diverser MT-Engines und erfasst dabei entsprechende Daten, um festzustellen, welche Engine qualitativ am ehesten an die vorhandenen deutschen Übersetzungen heranreicht.

Schritt 4: Ergebnisse analysieren

Anhand der im dritten Schritt erfassten Daten kann Ihr LSP analysieren, welche MT-Engines mit Blick auf Ihre Geschäftsziele am besten geeignet sind. Durch die Kombination manueller sowie automatisierter Qualitätsanalysen kann ermittelt werden, ob und falls ja welche Engine Ihre Erfolgskriterien erfüllt.

Ausgewählt wird die Engine, deren Ergebnisse am ehesten an die Qualität der manuellen Referenzübersetzung heranreichen, doch hier gilt: Eine MT-Engine, die alles kann, gibt es (noch) nicht. Wahrscheinlicher ist, dass je nach Sprachkombination und Content-Typ mehrere Engines gute Resultate liefern und in Ihrem Projekt zum Einsatz kommen können.
Sollte gar keine Engine überzeugen, dann sind Sie für die maschinelle Übersetzung womöglich noch nicht bereit. Oder wie wir es sehen: MT ist noch nicht für Sie bereit, weil MT Ihre Qualitätsansprüche (noch) nicht erfüllen kann. Dies ist übrigens kein Grund zum Verzagen – schließlich gibt es andere Optionen.

Auch muss das Thema MT damit nicht ein für alle Mal abgehakt sein. Sie können weitere Tests mit anderen Engines, Inhalten oder Sprachen durchführen. Ist die Ausgangssprache beispielsweise Englisch, liefert die MT für strukturell ähnliche Sprachen wie Spanisch, Italienisch oder Französisch oft bessere Ergebnisse als für sehr anders strukturierte Sprachen, etwa Russisch oder Ungarisch.

Und falls der Test erfolgreich ist, folgt …

Schritt 5: Engines bereitstellen

Wenn Sie hier angelangt sind, sind Sie bereit für die praktische MT-Umsetzung. Vor Ihnen liegen nun mehrere Aufgaben: die Auswahl einer oder mehrerer MT-Engines, deren Einrichtung für die gewünschten Sprachen, die Entwicklung eines Projekts für die maschinelle Übersetzung mit Post-Editing (MTPE) und die Einarbeitung der Projektmanager in die Prozesse.

Dies bedeutet auch, dass Sie einige Entscheidungen treffen müssen, darunter: Wie soll das MT-Projekt in Ihre vorhandenen Workflows und Translation-Management-Systeme integriert werden? Soll die Engine-Bereitstellung lokal oder in der Cloud erfolgen? Wie viele Prüfschritte sind für die Übersetzungen je nach Markt erforderlich? Besprechen Sie die MT-Bereitstellung mit Ihrem LSP – er kann Ihnen dabei helfen, eine passende Strategie zu entwickeln.

Schritt 6: Optimieren, testen, wiederholen

Ein MT-System, das Ihren derzeitigen Anforderungen entspricht, kann im Laufe der Zeit mit Ihrem Unternehmen mitwachsen und sich bewähren – oder auch nicht. Es ist wie bei einem Paar Schuhe, die beim Kauf wie angegossen zu passen schienen, aber mit der Zeit doch am Fuß drücken oder sich ablaufen.
Übertragen auf unser Thema heißt dies: Entgegen den Vorstellungen vieler Unternehmen ist die maschinelle Übersetzung kein Vorschlaghammer, sondern eher ein Skalpell. Hinzu kommt, dass sich die Technologie stetig weiterentwickelt.
Wir bei RWS Moravia sind davon überzeugt, dass wachsende Lokalisierungsvorhaben technischer Lösungen bedürfen, damit mehr Sprachen integriert, größere Volumina bewältigt, Kosten gesenkt und die Qualität verbessert werden können. Gleichzeitig setzt eine erfolgreiche MT-Implementierung aber fortlaufende Tests, Analysen und Optimierungen voraus. Wir hoffen, dass Sie anhand dieser Schritte die Nützlichkeit der MT-Technologie für Ihr Unternehmen besser einschätzen können. Sollten Sie Fragen zu einzelnen Phasen der MT-Planung oder -Bereitstellung haben, wenden Sie sich jederzeit gerne an uns.

Lee Densmer
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Lee Densmer

Lee Densmer ist seit 2001 in der Lokalisierungsbranche tätig. Sie begann als Projektmanagerin und wechselte dann zu Lösungsarchitektur und Marketing-Management. Wie viele Lokalisierungsexperten kam auch sie durch ihr Sprachinteresse und ihre linguistische Ausbildung zu diesem Bereich. Sie hat einen Master-Abschluss in Linguistik von der University of Colorado. Lee Densmer lebt in Idaho und unternimmt gern Auslandsreisen und Ausflüge in die umliegenden Berge.
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