Warum es bei mehrsprachigem Content keinen „Normalfall“ gibt
08. Dez. 2020
Es hätte mich eigentlich nicht überraschen sollen. Als ich die Verpackung meines neuesten Handys öffnete, lag zur Dokumentation nur ein beinahe wortfreier Anleitungszettel dabei, der die wichtigsten Komponenten des Geräts zeigte. Mehr gab es nicht. Nicht einmal eine Kurzanleitung für den Einstieg. Wer schon etwas länger in der Übersetzungsbranche arbeitet, für den ist die Zeit, als Produkten noch Handbücher beilagen, nur noch Nostalgie. Damals verstand man bei Produkteinführungen unter „fristgerechter Abgabe“ eine Erstübersetzung des noch unveröffentlichten Contents, gefolgt von einer zweiten Übersetzung des überarbeiteten, endgültigen Contents. Danach kamen die Bilder hinzu, das letztmalige Desktop Publishing folgte und schließlich endete der Prozess mit der linguistischen Qualitätssicherung und der Einreichung des mehrsprachigen Handbuchs direkt bei der Druckerei – um „Zeit zu sparen“.
Die alte und die neue Vorgehensweise
Heutzutage werden Projekte „agil“ geführt. Für die Produktion einer mehr als 40-seitigen mehrsprachigen Gebrauchsanleitung fehlt schlicht die Zeit und nötig ist es auch nicht mehr. Neue Produkte und ihre Varianten kommen schnell getaktet auf den Markt und sie enthalten gleich eine Hilfefunktion. Alternativ gibt es diese Hilfe online. Die modernen Methoden der agilen Entwicklung geben zweiwöchige Sprints vor, die zusammengenommen eine „kontinuierliche Lokalisierung“ erfordern. Hierbei „strömt“ der zu übersetzende Content – eine große Menge an kleinteiliger Dokumentation, d. h. neuer und überarbeiteter Text – relativ konstant heran. Seitdem ist Schluss mit der einmaligen Lieferung des Produkts „Handbuch“. Ganz neu ist die Situation jedoch nicht. Die Automobilindustrie bedient sich seit Mitte der neunziger Jahre der kontinuierlichen Lokalisierung von Gebrauchs- und Wartungsanleitungen und technischen Servicemitteilungen. Fortschrittlichere Sprachdienstleister (Linguistic Service Providers, LSPs) stimmen ihre technische Infrastruktur seitdem auch auf diese Art Workflow ab. Im Laufe der letzten 30 Jahre hat sich die kontinuierliche Lokalisierung in allen vertikalen Märkten und auf alle Content-Typen ausgebreitet und läuft digital ab. Wie der Fall meines Handys zeigt, wird auf gedruckte Handbücher auch schon einmal ganz verzichtet. Ermöglicht hat dies eine Veränderung im Umgang mit Ausgangs-Content und Übersetzungen: Beides wird für Websites, die Marketingkommunikation, Dokumentationen und Software immer häufiger in Content-Repositorys verwaltet. Neue und überarbeitete Content-Blöcke werden zur Übersetzung aus den Repositorys geholt und danach wieder eingespeist. Einige Content-Typen erfordern eine ununterbrochene Rund-um-die-Uhr-Lieferkette für die Übersetzung.Der Bedarf an Automatisierung
Das Szenario der kontinuierlichen Lokalisierung erfordert Prozessautomatisierung: Automatisiert werden muss der Content-Austausch und die Dateiaufbereitung vor und nach der Übersetzung, die Zuweisung von Übersetzern und die Ausführung der linguistischen Qualitätssicherung. Dementsprechend haben LSPs Workflow-Technologien implementiert, um den Prozess so weit wie möglich zu automatisieren. Außerdem nutzen sie Methoden wie Lean Six Sigma, um Potenzial für Straffungen und bessere Geschäftsprozesse zu ermitteln und auszuschöpfen. Tatsächlich ist die kontinuierliche Lokalisierung standardmäßiger Bestandteil des Serviceportfolios der meisten LSPs.Wer nur den „Normalfall“ betrachtet, übersieht einiges
Bedenkt man, wie lange kontinuierliche Lokalisierung schon existiert, sollte man meinen, Ausgangs-Content würde sich praktisch reibungslos durch Workflows schleusen lassen. Hier setzt die 80/20-Regel an: Wenn 80 % des Prozesses so effizient wie möglich ablaufen, sinken die Bereitstellungskosten, die Margen steigen, das Produkt ist schneller am Markt und die Kunden zufriedener. Dann ist alles unter Dach und Fach, oder? Möglicherweise nicht. Dieser Wunschvorstellung liegt die Annahme zugrunde, Übersetzung sei wie Fließbandarbeit – der Ausgangstext wird Wort für Wort in ein Tool eingegeben und kommt dann Wort für Wort übersetzt „auf der anderen Seite“ heraus. Um ein kontinuierliches Lokalisierungsprojekt durchzuführen, muss dies tatsächlich zum großen Teil angenommen werden. Unternehmen konzipieren Prozesse so, dass 80 % des Contents, der zu 80 % des Umsatzes beiträgt, in einem „Normalfall“ – einem Standardsatz automatisierter Schritte – verarbeitet wird. Doch wenn sich alle Anstrengungen zur Prozesseffizienz auf den „Normalfall“ konzentrieren, kann es dazu kommen, dass 20 % des Contents, der nicht dem „Normalfall“ folgt, 80 % der Kosten aufwerfen. Leider werden diese 20 % in der Welt der Workflow-Automatisierung kaum beachtet. Warum ist das so? Die meisten am Markt verbreiteten Meinungen zu Workflows und Workflow-Tools betrachten die 20 % als Ausnahmen: „ungewöhnliche“ oder „unnormale“ Ereignisse, deren Aufkommen minimiert werden muss, oder zu verkraftende Variationen innerhalb der Toleranzen des Standardprozesses. Sie werden im Zusammenhang mit dem Workflow als Einzelfälle gesehen, die kaum vorhersehbar sind und spezielle Lösungen erfordern. Doch was ist, wenn Ausnahmen und Variationen einfach ein Bestandteil des Prozesses sind?Wenn Ausnahmen die Regel sind
Beim Fliegen beispielsweise können wir uns den unauffälligen Teil zwischen dem Start und der Landung als durchgängigen „Normalfall“ vorstellen, der vom Autopiloten eigenständig gemeistert wird. Obwohl der Start und die Landung hierbei einmalige Situationen sind, sind sie keine Ausnahmen oder Variationen, sondern wesentliche Abschnitte des Flugs, bei denen der Pilot im Allgemeinen Hand anlegen muss. Die Unwägbarkeit der Konditionen bei diesen Manövern erfordert es. In jedem kontinuierlichen Lokalisierungsprojekt kommt es zu Ereignissen, die als Ausnahmen und Variationen bezeichnet werden könnten, wenn man sie aus der Normalfallperspektive betrachtet. Tatsächlich aber sind sie die logische Konsequenz aus den grundlegenden Veränderungen, die unsere Art der Arbeit durchläuft. (Zum Beispiel das Hinzufügen oder Entfernen von Sprachen, geänderter Content und Auftragsstornierungen.) Anstatt sie zu minimieren oder in den Toleranzbereich des Workflows aufzunehmen, müssen diese Ereignisse aufmerksam gehandhabt werden. Wird mit diesen Ereignissen nicht effektiv umgegangen, stockt der Ablauf wie der Verkehrsfluss bei einem Lkw-Überholmanöver auf der Autobahn, einem liegengebliebenen Auto auf der Straße oder einem Rettungseinsatz bei fehlender Rettungsgasse. Es geht einfach nicht wie gewohnt voran. Wenn die nachfolgenden Fahrzeuge nicht irgendwie umgeleitet werden, droht ein langer Stau. Ebenso wie ein Flugzeug mit Pilot und Co-Pilot ausgestattet ist und der Straßenverkehr mittels Kameras und Anzeigetafeln intelligent gesteuert werden kann, gibt es im Bereich Übersetzungsservices Projektmanager mit entsprechenden Teams, die einschreiten und die Situation klären können. Der Umgang mit Ausnahmen oder Variationen spielt bei Workflow-Theorien allerdings keine große Rolle. Sofort einsatzbereite Workflow-Tools sind noch weniger dafür gerüstet. Wie also können Teams effektiv mit den 20 % an für Professional Services typischen Änderungen umgehen, wenn der Prozess nur auf die 80 % ausgelegt ist, die als „Normalfall“ gelten?Die Grundlagen für herausragendes Ausnahmenmanagement
Drei Elemente unterstützen den effektiven Umgang mit dem oft vernachlässigten „Unnormalfall“:- Gute Klassifizierung: eine Methode zur Klassifizierung von Ausnahmen und Variationen, damit diese schnell eingegrenzt werden und Workflows erstellt werden können, die die effektivste Handhabung je Typ ermöglichen. Eine solches Framework aufzusetzen, erfordert einiges an Aufwand, doch es hilft beim Formulieren einer Strategie für den kostengünstigsten Umgang mit verschiedenen Ausnahmentypen. Ein solches Klassifizierungs-Framework ging unter anderem aus der Initiative „Workflow Patterns“ hervor.
- Gute Technologien und Daten: ein Workflow-System, mit dem sich die Vorgänge im Prozess visualisieren lassen und mit dem das Projektmanagement-Team schnell eingreifen, eine Lösung finden und Staus vermeiden kann, die weitere Probleme nach sich ziehen. Für die kontinuierliche Lokalisierung sind kommerzielle Workflow-Systeme nicht gut genug auf die Handhabung von Ausnahmen ausgelegt, deshalb neigen Sprachdienstleister dazu, eigene Lösungen zu entwickeln oder Lösungen im Umfeld kommerzieller Systeme anzupassen. Umso besser, wenn diesen Maßnahmen ein Framework für den Umgang mit Ausnahmen zugrundeliegt.
- Gutes Projektmanagement: ein erfahrenes Team, geschult für kontinuierliche Lokalisierungsprojekte, das Einrichten automatisierter Workflows für die 80 % Normalfall und in der Anwendung verschiedener Methoden zum Umgang mit den 20 % abseits des Normalfalls. Darüber hinaus benötigt das Team Sachkenntnisse zum Ausnahmenmanagement-Framework. Diese ergeben sich aus jahrelanger Erfahrung im Umgang mit den anspruchsvollsten Kunden und Projekten.
Für alle Eventualitäten gerüstet
Das Management kontinuierlicher Lokalisierungsprojekte erfordert ein hohes Maß an Lokalisierungsreife beim Kunden und Anbieter. Es braucht Zeit, den Normalzustand zu konzipieren und zu realisieren. Außerdem muss das Workflow-Management eine ganzheitliche Perspektive einnehmen, um neben dem Üblichen und Vorhersehbaren auch mit den Ausnahmen umgehen zu können. Natürlich soll die 80-%-Mehrheit des Contents so reibungslos wie möglich verarbeitet werden. Doch die restlichen 20 % dürfen Sie nicht vernachlässigen. Sie zu ignorieren, ist riskant. Erfolgreiche kontinuierliche Lokalisierungsprojekte erfordern mehr als die Automatisierung des Normalfalls. Im schnellgetakteten Professional Service namens kontinuierliche Lokalisierung sind die sogenannten Ausnahmen (20 %) ebenso üblich wie der Rest des Workflows (80 %). Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal im Flugzeug sitzen, dicht an dicht auf der Autobahn unterwegs sind oder Ihr neuestes technisches Spielzeug aus der handbuchfreien Verpackung holen.Vielen Dank an unseren Solutions Architect Stuart Sklair für diese interessanten Ausführungen!